Donnerstag, 6. Juni 2013

Neu-Brundisium, Nacht

Abermals versuchte er gegen die viel zu engen Lederfesseln anzukämpfen. Sie gaben keinen Haarbreit nach, schnürten ihn ein, nahmen ihm die Luft. Und diese war sowieso eng begrenzt, nachdem dieser Mann in der Mönchsrobe ihm diese bizarre Lederapparatur über Mund und Nase geschnallt hatte. Paul spürte wie sich der Schweiß unter der ledernen Halbmaske sammelte, es fühlte sich unangenehm warm und stickig an. Nur durch einen dünnen Lederschlauch kam noch etwas frische, kühlere Luft, die er röchelnd einsog.
Kühle, leichenblasse Finger huschten erneut über sein Gesicht und rüttelten probeweise an der Lederkonstruktion, zupften an dem Schlauch und ließen dann endlich von ihm ab.
Unwillkürlich überlief ihn ein Zittern und er spürte wie sich die Härchen an seinem Körper aufrichteten.

Zufrieden betrachtete Balduin den fest verschnürten Menschen, der seinen ruhigen Blick aus schreckgeweiteten Augen erwiderte.
Alles war bereit - diese Nacht würde endlich der Durchbruch gelingen und sich ihm völlig neue Möglichkeiten öffnen. Wissen, Ruhm, Respekt - alles war auf einmal in greifbare Nähe gerückt.
Dieses Experiment musste glücken und sein in den letzten Jahren erworbenes Wissen und die daraus resultierenden Theorien bestätigen. Und es würde! Es war alles so logisch... wenn man genau darüber nachdachte. Ein unwillkürliches Schaudern kroch seinen ohnehin schon kalten Rücken hinab als er an all die Fehlgeleiteten dachte, die Jahrzehnte ihres Lebens und Unlebens mit erfolgloser Sucherei verbracht hatten. Warum sollte man auch mit völlig belanglosen Leichen herum hantieren wenn man sich doch eigentlich für den Tod selbst interessierte?

Nur noch ein Teil der Versuchsapparatur fehlte und er wendete sich unwirsch zu der Tür des behelfsmäßig in einem hölzernen Hafengebäude untergebrachten Laboratoriums um.
"Mirjam! Wo bleibt die verdammte Ratte?!"
Hektische Geräusche kündeten von einer wilden Jagd, bevor er die junge Frau überhaupt erblickte, die unbeholfen mit einem Stock in den Schatten herumstocherte. Vollkommen abgelenkt verlor sie ihr Gleichgewicht und landete bäuchlings auf dem Boden.
"Sie ist zu schnell!" beschwerte sie sich schmollend und drehte ihm das durch eine beeindruckende Narbe gezeichnetes Gesicht zu.
Sein Grinsen ließ die spitzen Eckzähne malerisch im hellen Mondlicht aufschimmern. "Manchmal wundert es mich wirklich wie du dich ernähren kannst, Kind." Sorgfältig verriegelte er die Tür des zweckentfremdeten Lagerraums hinter sich und trat zu ihr.

"Schließe die Augen und versuche deine Sinne zu stärken. Versuche deine Ohren hellhöriger zu machen, deinen Blick zu schärfen und deine Umwelt auch mit der Nase zu erfahren."
Sie schenkte ihm ein leichtes Lächeln und senkte gehorsam die Lider, während sie völlig unnötig einen tiefen Luftzug nahm. "Hm.... ich höre was aber rieche nichts."
Balduin senkte seine ohnehin schon ruhige Stimme zu einem leisen Flüstern: "Dann konzentriere Dich auf das Geräusch. Könnte es von einer Ratte stammen? Hörst Du das Kratzen von Barthaaren an Stein? Das Trippeln kurzer Krallen auf unebenem Boden? Das hektisch pochende Herz eines Nagetieres?"
Anstrengung zeigte sich auf ihrem Gesicht und sie schürzte die Lippen: "Ja - sie sie ist wohl in der Nähe."
Gespannt beobachtete er sie: "Dann versuch sie genau zu lokalisieren. Überlege wie viele Schritte Du wohl brauchen würdest um sie zu überraschen. Und wenn Du Dir sicher bist: Schlag zu!"
Unwillkürlich zeigte ihr Finger in eine Ecke und legte sich dann verschwörerisch auf ihre Lippen. Langsam pirschte sie sich wie eine Katze in die angegebene Richtung, machte einen plötzlichen Satz.

Als sie die Hand wieder hob zappelte dort eine fette Ratte hilflos an ihrem langen Schwanz.
Kurz blitzte echter Stolz in seinen Zügen auf: "Sehr gut, das ist genau das Gefäß was wir brauchen - Tiere eignen sich hervorragend. Sie verfügen über keine eigene Seele und eine frische körperlose Seele sehnt sich nach der Wärme des Blutes."
Breit grinsend musterte sie die Ratte, welche sich verzweifelt in ihrer Hand wand und laut quiekte: "Sieh nur wie sie kämpft , sie ist stark nicht wahr? Genau richtig."
Ein knappes, bekräftigendes Nicken. "Sie wird ihren Zweck erfüllen. Befestige sie gut am Lederschlauch am Ende der Apparatur."

Tief in Gedanken versunken öffnete er die Tür und hielt sie ihr auf: "Ich hoffe dass die Seele mit dem letzten Atemzug in die Apparatur und durch diesen Schlauch auch tatsächlich zur Ratte kommt." Der Sterbliche auf dem Tisch wurde sich seiner Sterblichkeit gerade sehr bewusst, als die beiden zu ihm traten und Mirjam die Ratte ungeschickt am anderen Ende der Vorrichtung anbrachte. Zitternd starrte er dabei auf die gelben Nagezähne, die der Frau eben noch zwei Bisswunden und einige Kratzer eingebracht hatten.
Während die Wunden wie von Zauberhand verschwanden blickte sie wieder zu ihrem Mentor: "Bist du dir sicher das es funktionieren wird?"
Seine Stimme klang nachdenklich und sein Gesicht verschwand fast im Schatten der weiten Kapuze seiner Robe: "Es wäre ein echter Durchbruch in der Forschung, wenn wir die Seele auch für nur einen Moment aufbewahren und so für weitere Experimente verfügbar machen könnten. Stell dir nur die Möglichkeiten vor.."
"Und dann versuchen wir die Seele in ihr zu finden und werden diesen kleinen Körper sezieren ? Ich bin mir sicher die anderen werden ihre Häupter neigen vor dir." Ihre Stimme klang nicht ganz überzeugt, aber die Aussicht auf eine mögliche Vivisektion füllte sie mit Enthusiasmus.
Seine dürren Finger tätschelten fast liebevoll über die schweißbedeckte Stirn des zukünftigen Seelenspenders, der nicht wirklich erbaut über seinen Beitrag zur modernen Forschung war. "Die Seele zu finden wird immens schwierig sein - gerade weil die meisten Körper leider absterben während man noch sucht und so der Seele ein entweichen möglich machen. Aber Du darfst ihn", er tätschelte den Mann erneut, "gleich gerne sezieren, wenn Du magst." Er dachte an die letzten lebhaften Diskussion in Erciyes. "Bei den letzten Versammlungen kristallisierte sich immer wieder die Meinung heraus dass ein Teil der Seele im sterblichen Körper zurück bleibt - und es ist auch eine gute Übung.
Wichtig ist das der Tod jetzt langsam eintritt damit die Seele Zeit hat sich zu sammeln und vorzubereiten. Welche Methoden bieten sich hierfür an?"

Voller Freude glänzten ihre Augen auf und es sprudelte nur so aus ihr hervor: "In den Büchern war ein Mann abgebildet dem ein Eimer auf dem Bauch gebunden war in dem eine Ratte saß . Sein Henker hat den Eimer mit Feuer erhitzt und die Ratte versuchte sich durch den Körper zu beißen."
Über so viel Kreativität verzückt blicke er zu ihr: "Der Tod wäre gewiss lang und qualvoll, aber wir würden wohl die Ratte dabei verschrecken."
"Wir müssten sie nur raus schneiden, es sollte sie nur ängstigen nicht töten." ihr flehentlicher Tonfall glich dem eines begeisterten Kindes. "Bitte, lass es mich versuchen."

Ein leises Kratzen erfüllte die Stille als er über den nie weichenden Bartschatten an seinem Kinn strich: "Ich mache mir ein wenig Sorgen um die Geräuschentwicklung. Hier am Hafen wird ja einiges übertönt.. aber es wäre doch ein wenig auffällig. Wir sollten diese Art von Experimenten doch besser aufschieben bis wir endlich einen vernünftigen Platz für unser Labor haben. Aber wir werden einen Test starten, versprochen. Vielleicht finden wir durch diese neue Todesart ja auch neue Erkenntnisse?"

Zum Entsetzen des zur völligen Bewegungslosigkeit verdammten Mannes folgte ein leidenschaftliches Gespräch über die Vor- und Nachteile der einzelnen Todesarten, in der die Frau mit einer beinahe boshaften Kreativität brillierte, während der Mann das Ganze eher pragmatisch nüchtern sah.

"Ich denke wir sollten langsam handeln, sonst stirbt er womöglich an Herzversagen" unterbrach sie die Diskussion.

Der Rest ging erstaunlich schnell. Ein flacher Schnitt, eine Prise eines unscheinbaren Pulvers aus einem Lederbeutel - und gespannte Erwartung.
Fasziniert beobachteten die beiden ihr Versuchsobjekt, welches mit schmerzverzerrtem Gesicht immer weiter verkrampfte. Balduin beugte sich noch weiter vor und seine Stimme vibrierte vor Aufregung: "Da! Hörst du wie der Herzschlag langsamer wird und der Atem anfängt zu stocken?"
Ihre Antwort war nur ein kaum hörbares Flüstern: "Das Unangenehmste daran ist, dass die sich in diesem Moment immer in die Hosen machen".

Wild hämmerte das kleine Herz der Ratte und die Schnurrhaare zitterten vor Furcht. Adrenalin durchflutete ihren Körper, alle Muskeln waren bis zum äußersten angespannt. Feuchtigkeit kondensierte aus der warmen Luft auf ihrem weichen, glänzendem Fell und sie spürte wie sie langsam abrutschte. Ein zarter Lufthauch streifte fast zärtlich ihre Schnauze, als der Sterbende seinen letzten Atemzug aushauchte.

Ein aufgeregtes Aufkeuchen, dann griff eine klauenartige Hand hektisch in ihre Richtung. Beinahe wahnsinnig vor Schreck zappelte sie wild, glitt endgültig aus der beklemmenden Konstruktion und stürzte zu Boden. Kaum spürte sie die harten Steine unter sich, begann sie panisch loszupreschen - das Geschrei der beiden Gestalten trieb sie nur noch mehr an. Von der Angst beflügelt hetzte sie aus dem Schuppen in die engen, stinkenden Gassen der nächtlich-finsteren Hafenmetropole, dicht gefolgt von ihren übermenschlich schnellen Häschern.
 
Fast wäre ihr die Flucht gelungen.

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